Ich gehöre zu einer Randgruppe, über die die Gesellschaft nicht gerne spricht: Ich bin Mutter eines verstorbenen Kindes. Einige Schwangere, die eine Fehlgeburt erleiden, spüren, dass etwas nicht stimmt und haben eine fürchterliche Vorahnung. Auch ich hatte plötzlich ein Gefühl während meiner Schwangerschaft, welches ich nicht beschreiben kann. Eine fürchterliche Vorahnung, die sich ein paar Tage nach meiner Routineuntersuchung am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats beim Frauenarzt bestätigte.
Während der ersten Wochen meiner Schwangerschaft waren mein Freund und ich glücklicher denn je. Es war meine erste Schwangerschaft und unser erstes, geplantes Kind. In den ersten acht Wochen meiner Schwangerschaft hatte ich typische Schwangerschaftsbeschwerden, wie Brustspannen und Übelkeit. Besonders vor abgestandenen und leicht süßlichen Gerüchen wurde mir schlecht, wie zum Beispiel von durchgegartem Hähnchen. Auch konnte ich mein ach so geliebtes Parfüm während dem ersten Trimester nicht mehr riechen.
Die ersten Untersuchungen beim Frauenarzt verliefen ohne jegliche Probleme und nach meiner zweiten Routineuntersuchung in der achten SSW sah ich per Ultraschall endlich deinen Herzschlag. Wie schnell dein kleines Herzchen schlug, werde ich nie vergessen. Dies war für mich der Moment, indem sich meine Bindung zu dir noch mehr gefestigt hat. Mutterbindung – ein unbeschreibliches Gefühl! Ich war überaus glücklich und fragte meinen Frauenarzt, ob der schnelle Herzschlag normal sei. Worauf ich die Antwort erhielt, dass alles bester Ordnung sei. Anschließend bekam ich meinen Mutterpass und mein Muttergefühl entfaltete sich auf die nächste Stufe: Jetzt ist es offiziell – ich bin Mutter! Am Abend nach meiner Untersuchung erzählte ich meinem Freund von meinem Tag. Er war Feuer und Flamme und sagte, dass er bei der nächsten Untersuchung gerne dabei sein möchte und eher Feierabend machen werde, komme was wolle.
Ein paar Tage nach meiner Routineuntersuchung merkte ich eine wesentliche Veränderung meines Körpers. Das Unwohlsein und die Übelkeit waren von jetzt auf gleich verschwunden. Ich konnte wieder mein Parfüm, süße und abgestandene Gerüche riechen, ohne dass mir davon schlecht wurde.
Diese Tatsache hatte mich vollkommen verunsichert und mein erster Gedanke war, dass unser Kind nicht mehr lebt.
Ich rief sofort meine Mutter an und erzählte ihr von meiner plötzlich körperlichen Veränderung und von meinen Befürchtungen. Sie versuchte mich zu beruhigen und meinte, dass dies in meiner aktuellen Schwangerschaftsphase durchaus normal sein kann. Und auch nach meiner Recherche im Internet haben viele Websites und Foren darüber berichtet, dass sich der Geruchssinn besonders ab dem dritten Monat wieder normalisiert. Da ich gerade aus der sogenannten kritischen Phase heraus war, hatten mich meine Recherchen und mein Gespräch mit meiner Mutter beruhigt. Doch als ich schließlich bei der folgenden Routineuntersuchung bei meinem Frauenarzt war, erhielt ich die fürchterliche Nachricht und mein Albtraum hatte sich bestätigt.
Mein Mann machte für unsere nächste Routineuntersuchung eher Feierabend. Er freute sich so sehr darauf, den Herzschlag unseres Kindes zu sehen. Als wir im Untersuchungsraum waren, machte die Frauenärztin einen Ultraschall. Es dauerte eine Weile bis sie sagte: „Es tut mir leid, aber es gibt keinen Herzschlag mehr“.
Von jetzt auf gleich waren meine Glücksgefühle zerschossen. Mein Kopf war leer. Ich war geschockt, ich war gelähmt. Das kann nicht sein, dachte ich. Ich wollte die Worte der Ärztin nicht wahrhaben. Es fühlte sich wie ein schlechter Traum an. Mein Körper war zwar anwesend, aber mein Geist war vollkommen abwesend und ich habe es einfach nicht begriffen, was gerade passiert. „Sie müssen ins Krankenhaus und den Tod ihres Kindes von einer zweiten Meinung bestätigen lassen.“ Direkt nach der schrecklichen Nachricht fuhren wir ins Krankenhaus. Dort wurde erneut der Tod unseres Kindes bestätigt. Da es bereits schon nach 21 Uhr abends war, hatten uns die Ärzte wieder nach Hause geschickt mit dem Hinweis, am nächsten Morgen wieder zur Ausschabung ins Krankenhaus zu kommen.
Zu Hause angekommen hat die Welle der Trauer meinen Freund getroffen. Ich habe meinen Freund in den Arm genommen und ihn getröstet. War für ihn da und habe ihm Zuspruch gegeben, dass wir das gemeinsam schaffen und durchstehen. In dem Moment konnte ich an nichts anderes denken, als an die OP, die mich am nächsten Tag erwartet. Ich hatte so große Angst davor, dass ich aus der Narkose nicht wieder aufwache und das mich das gleiche Schicksal unseres Kindes trifft. Meine letzte OP war knapp 20 Jahre her und daran hatte ich leider keine guten Erinnerungen. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass diese Gedanken mich im Nachhinein noch zerfressen werden und mich in eine tiefe, schmerzhafte Trauer und Leere versetzen.
Ein paar Wochen nach der OP und nach dem Abklang der körperlichen Beschwerden überkam mich direkt eine Welle der Schuld, des Schams und der Trauer. Von jetzt auf gleich wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen und es fühlte sich so an, als ob mir jemand das Herz heraus riss. Im Nachhinein fühlte ich mich, für meine Reaktion am Tage unserer Fehlgeburt, schuldig. Mich plagten Gewissensbisse, dass ich so egoistisch war und in erster Linie an mich und die OP dachte, statt sofort zu trauern, wie es mein Partner tat.
Ich weinte mich die ersten Wochen und Monate nach unserer Fehlgeburt jeden Tag in den Schlaf. Leise und ohne, dass mein Freund davon etwas mitbekam. Ich ging jeden vergangenen Tag unserer Schwangerschaft im Kopf erneut durch und suchte nach dem Grund für den Tod unseres Kindes. Hätte ich an dem einen Tag lieber mehr Gemüse essen sollen oder an dem anderen Tag die sportliche Abwechslung auf dem Stepper sein lassen sollen? Mich quälte von Tag zu Tag das schlechte Gewissen, gewisse Dinge getan und gewisse Dinge zu wenig getan zu haben.
Irgendwann konnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen und mein Spiegelbild betrachten. Ich fühlte mich nicht nur schuldig, sondern auch nicht mehr liebenswert. Ich schämte mich für die erste Reaktion direkt nach der Bekanntgabe des Todes unseres Kindes. Wie konnte ich nur so egoistisch sein und mich in erster Linie um mich, die OP und um mein eigenes Wohlergehen kümmern, statt sofort zu trauern, wie mein Partner? Ich habe mich selbst als egoistisches Monster gesehen. Ein Monster, das keine Gefühle und nicht sofort um den Tod des eigenen Kindes trauert. Was für eine Rabenmutter wäre ich denn geworden? Wie hätte ich unter diesen Umständen überhaupt eine gute Mutter sein können? Und wenn ich mich selbst dafür hasse und mich mein eigenes Spiegelbild ankotzt, wie kann mein Partner mich dann überhaupt noch lieben?
Die Tage, Wochen und Monate vergingen. Seit dem Tag unserer Fehlgeburt versuchte ich meinem Partner gegenüber stark zu sein, indem ich meine Gedanken und Gefühle für mich behielt. Ich weinte, wenn mein Partner nicht zu Hause war oder wenn ich unter der Dusche stand. Tief im Inneren wusste ich, dass der Tag kommen wird, an dem meine Mauer bricht und mein Partner meine wahren inneren Gefühle entdeckt. Und so kam, was kommen sollte. Eines Tages kam mein Partner früher von der Arbeit und sah mich weinend im Wohnzimmer. Dies war der Moment, indem ich mich meinem Partner gegenüber öffnete und von meiner eigentlichen Gefühlswelt erzählte. Nachdem ich all meine Gefühle und Gedanken offenbarte, sagte ich ihm, dass ich es verstehen würde, wenn er sein Glück woanders suche und mich verlassen möchte. Denn für mich war klar, dass ich in nächster und auf unbestimmte Zeit nicht mehr die Alte sein werde.
Nachdem ich meine Gefühlswelt meinem Partner gegenüber geöffnet habe, begann ich mein Leben nach und nach aufzuräumen. Ich trennte mich mehr und mehr von Dingen und Menschen, die meiner Seele nicht gut taten. Ich brach den Kontakt zu einigen Freunden ab, kündigte meine Arbeitsstelle und machte mich selbstständig mit dem Ziel, einen Fehlgeburten Blog ins Leben zu rufen und anderen Betroffenen Kraft und Mut zu spenden. Mein Partner machte mir ein paar Wochen nach unserem ersten offenen Gespräch einen Heiratsantrag und wir heirateten am eigentlich berechneten Geburtstermin Anfang November 2019.
Fakt ist: Unsere Fehlgeburt hat mich nicht nur bis aufs Mark getroffen. Unser Verlust zählt zu den schlimmsten Ereignissen meines Lebens und wird mich ein Leben lang begleiten. Von meiner Frauenärztin hätte ich mir mehr Aufklärung gewünscht, was im Falle einer Fehlgeburt auf uns zukommt und was uns im Krankenhaus erwartet. Im Nachhinein kann ich jedoch sagen, dass unsere Fehlgeburt auch etwas Positives hatte: Die Beziehung zu meinem Partner hat sich durch unseren Verlust und durch unseren offenen Austausch noch mehr gefestigt. Ich bin so froh und glücklich darüber, dass ich solch einen rücksichtsvollen Mann an meiner Seite habe. Denn ohne sein offenes Ohr und ohne seine Hilfe und Unterstützung, würde ich nicht dort stehen, wo ich heute angekommen bin.
Hast auch du eine Fehlgeburt erlitten? Wie bist du mit deinem Verlust umgegangen? Was hat dir geholfen? Was hat sich seither verändert? Schreibe mir deinen Gedankenbalsam gerne an: info@gedankenbalsam.de . Bei Interesse veröffentliche ich deine Geschichte auch gerne hier auf meinem Blog, um Betroffenen mit deinen Erfahrungen Hoffnungen und Mut zu geben.